Interview mit Dr. Martina Taubenberger
Wie fühlt es sich an, auf einem der spannendsten innerstädtischen Bauprojekte in Deutschland zu arbeiten, kreativ tätig zu sein?
Das ist natürlich schon ein wunderbares Privileg. Das ganze Viertel ist ständig im Umbruch; das Nebeneinander von Nicht-Mehr und Noch-Nicht, von Neubauten und sanierten Werkshallen, von überwucherten, verlassenen Abrissgebäuden und Baustellen … das ist schon wahnsinnig inspirierend. Und es ist etwas ganz Besonderes, Teil dieses Prozesses zu sein und immer wieder neue Zwischenräume zu suchen und zu bespielen.
Was ist das Werksviertel Mitte, was passiert dort heute und in der Zukunft?
Das, was heute das Werksviertel-Mitte ist, waren bis etwa Mitte der 1990er-Jahre die Pfanni-Werke. Nachdem die Produktion stillgelegt und die Marke Pfanni in der Folge verkauft wurde, wurden die ehemaligen Werkshallen, in denen man zuvor Kartoffelbrei, Knödel und „Reiberdatschi“ hergestellt und Kartoffeln gelagert und verarbeitet hatte, in den 1990ern und in die Nullerjahre hinein zum vielleicht un-münchnerischsten Szeneviertel der Stadt. Trashige Clubs (heute würde man wahrscheinlich Pop-up-Clubs dazu sagen), Künstler:innenateliers, Fotostudios, Bandprobenräume, Start-ups … Das Pfanni-Gelände wurde zum „Kunstpark Ost“, später zur „Kultfabrik“. Und heute entsteht dort eines der innovativsten und vielleicht ungewöhnlichsten Immobilienentwicklungsprojekte Deutschlands.
Für wen machen Sie dort Kultur?
Der Anspruch ist, durch Kunst und Kultur und mithilfe von Künstler:innen aller Sparten Identität zu stiften für diesen neu entstehenden Stadtteil. Perspektivisch geht es also schon um die zukünftigen Bewohner:innen des Werksviertel-Mitte und aktuell um die gewerblichen Mieter:innen und die Mitarbeiter:innen, die für die sich hier ansiedelnden Unternehmen arbeiten. Aber natürlich sprechen wir darüber hinaus alle Münchner:innen an und strahlen ja auch weit über München hinaus. Unsere Zielgruppe beschreibe ich gerne als die „urbane Stadtgesellschaft“.
Wie viel Nachklang, wie viel Vermissen ist auf dem Gelände des ehemaligen Kunstpark Ost, der in den 1990er-Jahren weit über die Grenzen Münchens hinaus als kultureller Schmelztiegel, Freizeitareal und Veranstaltungszentrum bekannt war, im Werksviertel-Mitte weiterhin zu spüren?
Nostalgie ist schon ein wichtiger Begriff für dieses Quartier. Man findet an allen Ecken Reminiszenzen und Zitate aus der Geschichte des Geländes. Manchmal ist das ein bisschen skurril, weil diese besondere Atmosphäre und diese Identität jetzt natürlich auch künstlich am Leben erhalten oder sogar wiederbelebt werden soll. Das kann – wenn man nicht aufpasst – leicht ins Museale oder Romantisierende abgleiten. Glücklicherweise steht hinter dem Konzept des Werksviertels-Mitte aber eine sehr innovative, mutige und zeitgemäße Vision, die diesen Widerspruch immer wieder versteht, charmant aufzulösen.
Wie ist die Idee zur whiteBOX entstanden, mit welchen Zielen und Visionen?
Die Idee der whiteBOX basiert auf einem Kunstverein, der in den Nullerjahren rund um die gleichnamige Ausstellungshalle im ehemaligen WERK3 der Pfanni-Werke gegründet wurde. Der Verein gab dem Thema Kunst erstmals eine klare Verortung im Quartier. Etwa 2014 kam dann der Inhaber des Geländes, Werner Eckart, auf mich zu mit dem Auftrag, ein Konzept zu entwickeln, wie der damalige Status Quo erhalten und weitere Gentrifizierungsdynamiken verhindert werden könnten. Der Anspruch war auch, künstlerisch-kulturelle Formate zu professionalisieren und stärker zu profilieren und mit den Zielsetzungen und Visionen des Werksviertels-Mitte zu verbinden. Ergebnis war eine Kombination aus einem Atelierförderprogramm für bildende Künstler:innen und einem ambitionierten und konsequent kuratierten Veranstaltungs- und Ausstellungsprogramm, das sich insbesondere der besonderen Beziehung zwischen Mensch und Raum widmet.
War und ist der Entscheid für das Werksviertel als Standort für das neue Konzerthaus für Ihre Arbeit und das Quartier ein 6er im Lotto?
Vielleicht nicht unbedingt ein 6er im Lotto – dafür sind viel zu viele klare strategische Überlegungen mit im Spiel gewesen. Auf allen Seiten. Denn die Standortwahl ist ja nicht nur für das Werksviertel ein Gewinn, sondern birgt insbesondere ein riesiges Potenzial für das Konzerthaus. Kultureinrichtungen müssen sich heute sehr viel stärker mit der Stadtgesellschaft verbinden und den Blick nach vorne richten. Das Werksviertel garantiert die Begegnung und auch die Durchmischung ganz unterschiedlicher hybrider Zielgruppen. Wenn man das gut anstellt, kann das unsere Vorstellung davon, was ein Konzerthaus überhaupt ist, grundlegend verändern.
Was hat sich dadurch in der Ausrichtung, in Ihrer Arbeit verändert?
Natürlich hat der Entscheid sehr viel Aufmerksamkeit auf das Werksviertel gelenkt. Teilweise ist dadurch konkret für meine Arbeit aber auch die Herausforderung hinzugekommen, sich nicht in den Schatten dieses riesigen „Hochkultur“-Projekts stellen zu lassen. Wir haben da zum Glück das nötige und auch angemessene Selbstbewusstsein, dem Konzerthausprojekt auf Augenhöhe zu begegnen. So sind wir mittlerweile regelmäßiger Kooperationspartner des Bayerischen Staatsministeriums für Wissenschaft und Kunst, das das Konzerthaus baut. Zuletzt haben wir im Herbst gemeinsam mit dem Ministerium das Projekt „Bilder einer Baustelle“ gestartet, bei dem die Künstler:innen unserer Ateliergemeinschaft nacheinander über den gesamten Zeitraum das Bauvorhaben durch künstlerische Positionen kommentieren und dokumentieren. Insgesamt hat sich für mich dadurch auch der Anspruch bestätigt, im Werksviertel-Mitte bereits jetzt Maßstäbe im Bereich musikalischer Produktionen zu setzen und zu zeigen, was alles möglich sein kann und wird.
Dieses Jahr feiern Sie das 5-jährige Jubiläum! Eine erste Bilanz?
Das war eigentlich sogar schon im vergangenen Jahr. Ende Februar 2016 wurde die gemeinnützige whiteBOX Kultur gGmbH gegründet. Meine Bilanz ist überwiegend positiv. Ich hätte nie gedacht, dass wir so schnell so eine Wahrnehmung in München und sogar weit darüber hinaus erreichen würden. Ich habe bereits nach drei Jahren mal eine Selbstevaluation gemacht, ob wir noch an den ursprünglichen konzeptionellen Überlegungen dran sind und wie hoch unser Zielerreichungsgrad ist. Da war ich selbst ein bisschen baff, wie konsequent die Programme und Projekte auf die ursprüngliche Vision einzahlen. Es gibt noch Verbesserungspotenzial bei der Vernetzung mit den Akteur:innen im Werksviertel, das so schnell wächst, dass wir manchmal gar nicht hinterher kommen, alle neuen Siedler:innen kennenzulernen. Auch eine etwas breiter aufgestellte Finanzierung wäre wünschenswert. Aber insgesamt bin ich sehr zufrieden – insbesondere auch damit, wie wir die noch so junge Einrichtung durch die Pandemie navigiert haben.
Verbunden mit einer radikalen Entscheidung, wie Sie dies selbst formulierten?
In der Tat haben wir im Schockjahr 2020 festgestellt, wie belastend Räume und Infrastrukturen sein können, vor allem, wenn man sie dann gar nicht nutzen kann, der Aufwand aber weiterläuft. Wir haben dann ziemlich radikal entschieden, unsere Räume buchstäblich dicht zu machen und uns damit auch von dem an den spezifischen Raum geknüpften Namen whiteBOX zu trennen. Wir agieren seit März 2021 unter dem Titel „Werksviertel-Mitte Kunst“. Damit verbunden ist eine sehr viel bewusstere und stärkere Ausrichtung auf das gesamte Quartier und den öffentlichen Raum. Wir sind endgültig raus aus dem White Cube und rein ins Leben.
Und einem erweiterten Tätigkeitsbereich?
Ich weiß gar nicht, ob ich das unbedingt einen erweiterten Tätigkeitsbereich nennen würde. Eigentlich ist es eher die konsequente Weiterentwicklung unserer Vision und Mission. Wir bringen Kunst und Kultur in den Stadtraum und in die Stadtgesellschaft. Alles kann potenziell Kunstraum sein. Das schließt nicht aus, dass wir weiterhin auch ab und zu in den Ausstellungsraum gehen – der den Namen whiteBOX übrigens behält. Es ist aber nur noch eine unter vielen Möglichkeiten. Das Thema bestimmt die Form und die Form die Räume – und dann dreht sich dieser Prozess wieder um, wenn nämlich die Räume Ausgangspunkt ortsspezifischer Arbeiten und Kunstwerke werden.
Seit Beginn veranstalten Sie ein ungewöhnliches Klangfestival, das „Out Of The Box Festival“. Was verbirgt sich dahinter?
Das Festival ist vielleicht sogar das erste Format gewesen, mit dem wir diesen neuen Imperativ vorweggenommen haben. Der Name steht zum einen für das Denken „outside the box“, also das Unkonventionelle, Unerwartete, das Suchen nach neuen Formen. Gleichzeitig spielt der Titel mit dem Begriff der „Box“ als dem geschlossenen Raum, der bisher unser Zentrum war. „Out Of The Box“ geht eben raus aus den reinen Veranstaltungs- und Eventräumen und begreift Dächer, Baustellen, Treppenhäuser, Tiefgaragen oder dieses Jahr sogar das hier platzierte Riesenrad als Bühnen. Gleichzeitig präsentieren wir Produktionen, die sich zwischen allen Genres bewegen und die versuchen, Unerhörtes und Noch-nicht-Dagewesenes zu präsentieren – das aber nicht verkopft daherkommt, sondern sinnlich. Ich stelle den Konzepten dabei immer gesellschaftliche Fragestellungen voran. In diesem Jahr geht es um die Themen Mobilität und Bewegung versus Isolation und Einschränkungen von Bewegungsfreiheit – durchaus mit Blick auf die uns nach wie vor beschäftigende Pandemie und ihre Auswirkungen auf die Konstrukte Nähe und Distanz und die Frage, was das für uns als soziale Wesen bedeutet. Diese Meta- oder Schwerpunktthemen sollen aber durch die Produktionen nicht nur intellektuell, sondern vor allem emotional zugänglich werden.
Auf dem Programm stehen außergewöhnliche Klang- und Künstlerbegegnungen. Wie kommen Sie auf die Ideen, und wie bringen Sie die Künstler zusammen?
Ich werde das erstaunlich oft gefragt und wundere mich dann, dass das überhaupt eine Frage ist. Ich glaube, das Geheimnis ist einfach, genau zu beobachten und Beobachtungen zu speichern. Bei mir kann es passieren, dass ich nach Jahren auf eine:n Künstler:in zugehe und scheinbar völlig überraschend zu einem Projekt einlade. Für mich war aber immer klar, dass ich mit dieser Persönlichkeit mal arbeiten möchte. Es war nur eine Frage des richtigen Zeitpunkts und des richtigen Kontextes.
Und ich habe vielleicht auch ein ganz gutes Gespür dafür, welche Künstler:innen gut zusammenpassen könnten. Dabei muss jede:r auch immer aus der eigenen Komfortzone raus. Zu Beginn kann die künstlerische Zusammenarbeit mit mir und in meinen Projekten durchaus auch anstrengend für manche Beteiligte sein. Aber es zahlt sich in der Regel aus, weil sie in der Kombination zu etwas Neuem reagieren. Und mittlerweile gibt es auch schon viele Künstler:innen, die einfach Vertrauen zu mir haben und sich einlassen auf meine Konzepte. So entstehen viele neue Begegnungen auch schon durch dieses Netzwerk, das irgendwann anfängt, organisch von selbst zu wachsen.
Bei mir geht es ja auch nie um das nächste brandneue Gesicht oder den gerade am meisten gehypten Namen. Ganz im Gegenteil – in der Zusammenarbeit mit Künstler:innen bin ich sehr treu und finde es manchmal gerade spannend, über einen längeren Zeitraum immer wieder dieselben Leute in wechselnden Konstellationen in meine Projekte zu holen. Man entwickelt sich dann regelrecht gemeinsam und aneinander weiter.
Welche Künstler:innen und Programme erwartet das Publikum in den drei Veranstaltungsblöcken zwischen dem 27. Mai und dem 7. August 2022?
Den Auftakt macht Django Bates mit der Auftragskomposition „Babel – A Ballet of Signs“, das am 27. Mai diese „amplified edition“ unseres Festivals eröffnet. Hier wurde von dem Regisseur Axel Tangerding und mir ein Libretto aus Textversatzstücken zusammengestellt, die sich allesamt mit dem durchaus auch schmerzhaften Ausbruch aus der Isolation und Starre, die diese Pandemie für uns alle bedeutet, beschäftigen. Dieses Libretto wurde in Gebärdensprache übersetzt und dient in dieser neuen körperlichen Form als Bewegungsvokabular für die Choreografin Ceren Oran, die daraus eine Tanzperformance entwickelt. Uraufgeführt wird das Ballett von dem Kammerorchester o/Modernt aus Schweden, dem norwegischen Vokalensemble Trondheim Voices und dem Bern Art Ensemble. Django Bates spielt selbst als Pianist mit.
Das Piano steht auch im Mittelpunkt der zweiten Eigenproduktion „Digitale Poesie: The Human Touch“, die am 22. Juli uraufgeführt wird. Auch hier sind wieder die Trondheim Voices und das O/Modernt Chamber Orchestra eingebunden. Komponist und Solist dieses ganz besonderen Klavierkonzerts ist Ralf Schmid, der seit einigen Jahren mit Sensorik-Handschuhen, sogenannten „Wearables“ experimentiert. In dieser Produktion spielen wir mit der Trennung von Klang und Klangkörper und mit der Bewegung von Klängen im Raum. Das wird schon rein technisch sehr spannend und soll wie eine Art künstlerisches Labor sein für die Erforschung des Digitalen in der Musik der Zukunft.
Spielstätte und Protagonist der letzten Produktion ist dann das Riesenrad „Umadum“, das das Bild des Werksviertels-Mitte zurzeit maßgeblich prägt. Für mich ist das Riesenrad fast zum Symbol schlechthin für unsere Situation in der Pandemie geworden: Jede:r sitzt isoliert in ihrer:seiner eigenen Kapsel, immer in Bewegung, aber nicht von der Stelle kommend. Wir versuchen, mit der Außenwelt in Kontakt zu bleiben, aus der Isolation heraus. Der österreichische Komponist Christian Muthspiel hat den Kompositionsauftrag für die „Riesenradoper Umadum“ erhalten und setzt diese mit seinem Ensemble ORJAZZTRA VIENNA ab dem 5. August um. In jeder Gondel sitzt dabei ein:e Musiker:in. Die große Herausforderung – technisch wie auch künstlerisch – ist es, aus diesen isolierten Gondeln heraus gemeinsam zu musizieren und ein zusammenhängendes Kunstwerk zu schaffen. Hier wird dann übrigens erstmals auch das gesamte Libretto, das in „Babel“ auf der gestischen Ebene und in „The Human Touch“ zitathaft eingesetzt ist, explizit gesungen.