
Zürich (CH)
guerillaclassics
guerillaclassics möchte eine breitere Sichtweise dessen fördern, was, wo und wie klassische Musiken sind und sein können. Indem wir mit Gewohnheiten und Normen brechen, schaffen wir Umgebungen und Räume, in denen unterschiedliche Perspektiven auf klassische Musiken zusammenkommen, aufeinandertreffen und sich vermischen können. Wir wollen, dass klassische Musik ein offenes Forum für inspirierende Ideen und herausfordernde Hybride aus Alt und Neu, Vertrautem und Fremdem, Trost und Turbulenzen wird.
guerillaclassics glaubt an die Kraft der Synergie durch gemeinsame künstlerische Erfahrungen. Wir glauben an die Notwendigkeit, Räume für Diskurs durch künstlerische Erfahrungen zu schaffen, die vor der Bühne beginnen und nach der Aufführung weitergeführt werden.
Bei guerillaclassics sind die Künstler:innen eingeladen, einen kollektiven Prozess durch Zusammenarbeit und Co-Kreation zu gestalten. Als Teil dieses kollektiven Prozesses konzentrieren wir uns auf Reflexion und Wachstum. Wir arbeiten an der Schnittstelle zwischen Disruption und Komfort, um unsere Visionen in die Tat umzusetzen.
Have the courage to try something new, to embrace failure, to expand your passion!

INTERVIEW
Wir sprachen mit Hiromi Gut, der Gründerin und Künstlerischen Leiterin von guerillaclassics.
Wie sind Sie zur „Klassik_Radikalen“ geworden, was war der Moment, die Initialzündung, aufzubrechen und neue Wege zu beschreiten und guerillaclassics zu gründen?
Hiromi Gut: Während meines Gesangsstudiums in Lausanne – genauer gesagt am frühen Morgen des zweiten Tages meines Masters – wurde mir bewusst, dass ich als Interpretin nicht so künstlerisch kreativ sein konnte, wie ich mir das wünschte. Ich brach aus und arbeitete eineinhalb Jahre am Konzerthaus Berlin, wo ich sah, dass dann auch in der Konsequenz an Kulturinstitutionen gewisse Freiheiten für die zeitgenössische Kreation begrenzt waren. Und so gründete ich bei meiner Rückkehr nach Zürich guerillaclassics – ein Netzwerk, in dem man – solange die Gruppe, die Menschen als Publikum auf der Straße und das Umfeld es mittragen – alles künstlerisch ausdrücken kann, was bereit ist, seine Form zu finden. guerillaclassics war auch ein Schlüssel dazu, auf dieser Reise der Forschung und des Schaffens nicht alleine zu sein, sondern umgeben von Menschen, die Ideen austauschen und gemeinsam ihre kreativen Wünsche und Ambitionen entwickeln.

Warum ist ein Perspektivwechsel jetzt und zukünftig so wichtig?
Hiromi Gut: Einmal saß ich in der Programmgestaltungsrunde eines renommierten Festivals. Die Diskussion drehte sich darum, ein Thema zu definieren, das von aktueller Relevanz war und musikalisch aus- gearbeitet werden konnte. Es war eine Runde von Männern und ich zögerte, ob ich meinen intuitiv auf- steigenden Gedanken teilen sollte und sagte es dann doch: „Ich fände das Festival-Thema Liebe gut.“ Die Reaktion war ernüchternd – „nein“ hieß es. Ich bereute es etwas, meiner Zunge freien Lauf gelassen zu haben. Das Thema Liebe aus dem Mund einer Frau wie mir wurde sofort in die traditionelle Perspektive der Naivität und Verletzlichkeit eingeordnet und von der Versammlung nicht weiter berücksichtigt. Rund fünf Jahre später entdeckte ich die Texte der Autorin bell hooks. Eine andere Perspektive als die der Männer, mit denen ich gesessen hatte. Texte, die mir immer wieder viel über Geschlecht, Rasse und Klasse beibringen. Sie schrieb auch über Liebe, ihre gesellschaftliche und politische Kraft und ich dachte zurück an die Festivalrunde: Wenn doch nur die Perspektive von bell hooks mit vertreten gewesen wäre. Ich habe mich als Frau immer unwohl gefühlt, wenn es um die Behandlung von Frauenfiguren in der Oper ging, und gleichzeitig wäre eine Neuüberdenkung der Geschichten und Rollen anhand der Ideen von bell hooks eine interes- sante Perspektive.
Wir müssen uns in der westlichen Klassik-Szene dem Perspektivenwechsel als kontinuierliche Practice widmen, um uns relevant in die Zukunft zu entwickeln. Wir leben in Europa als Menschen von fünf Kontinenten zusammen. Die klassische Form des Sinfonieorchesters mit seinen geschriebenen Partituren bietet nicht genügend Wege, den Reichtum all’ dieser musikalischen Möglichkeiten zusammenzubringen. Es ist die Zeit, in der wir neue Wege gehen müssen, um von den Musiken aller Kontinente lernen zu können, auf Augenhöhe, und die Stimmen „vom Rest der Welt“ endlich gehört werden sollten – als weitere wichtige Perspektiven. Sie sind alle hier. Aber sie werden nicht gehört.

Wie werden Ihre Ideen und neuen Formate angenommen? Was funktioniert, was nicht, was ist noch unausprobiert?
Hiromi Gut: Vor rund zwei Jahren haben wir als Verein begonnen, Brainstormings zur dezentralen Programmgestaltung von Festivals zu machen. Wir sind mit zwölf Kurator:innen, Hosts und Mentor:innen gestartet, die aus ihren Netzwerken jeweils etwa fünf Künstler:innen eingeladen haben. An den Abenden treffen wir uns z.B. in einem großen Atelier, essen gemeinsam und tauschen uns aus. Künstler:innen aus allen Regionen, Altersklassen und musikalischen Genres bis zu anderen künstlerischen Disziplinen stoßen dazu – derzeit gerade auch durch einen Open Call über die sozialen Medien. Am Abend selbst bringen alle ihre Ideen ein, die sie gerade beschäftigen, und durch Resonanz der anderen im Raum entsteht daraus vielleicht ein Konzert, ein neues Format, eine Idee zur Co-Komposition. Diese Spontaneität, in der sich die Künstler:innen gegenseitig zueinander an den Tisch setzen, widerspiegelt sich in den Werken, die daraus entstehen. Was zur Bühne wird, wie das Publikum eingebunden wird und was musikalisch in welcher Kombination entsteht, ist in seiner Fluidität und Frische spürbar im Resultat dieser Practice. Das Wichtigste ist, dass sich Ideen der Menschen begegnen und sie sich dann entscheiden, sich gemeinsam auf den Weg zu begeben.
Das Gespräch führte Kai Geiger.