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Kiezsalon Berlin

Michael Rosen ist ein deutscher Kurator und Konzertveranstalter, der seit 2004 in Ber- lin lebt. Im Jahr 2008 gründete er die unabhängige Kulturagentur Digital in Berlin, deren künstlerischer Leiter er ist. Die kuratierte Plattform für anspruchsvolle Musikkultur ist ein musikalisches Archiv Berlins, das die Diversität der Szene widerspiegelt. Digital in Berlin unterstützt, berät und entwickelt gemeinschaftliche Kulturangebote, schafft Sichtbarkeit für spartenbezogene und spartenübergreifende Veranstaltungen und hilft, kulturelles und künstlerisches Potenzial wirtschaftlich besser zu nutzen.

Seit 2010 veranstaltet und kuratiert er vielerorts Konzerte in Berlin, seit 2015 vor allem unter dem Namen Kiezsalon. Der Kiezsalon präsentiert als ein Forum für innovative Musikausübung Künstler:innen unterschiedlicher Genres, Herkunft und Bekanntheit und bildet eine Schnittstelle zwischen Avantgarde, avancierter Popmusik und interdisziplinären Künsten. Die Reihe präsentiert in kompakten Vorstellun- gen von 30 Minuten ein stilistisch komplementäres Programm. Nach zehn Jahren mit etlichen Premieren und Spielorten in ganz Berlin hat sich der Kiezsalon als eine der beliebtesten und erfolgreichsten Musik-Reihen der Stadt etabliert.

Wir sprachen mit Michael Rosen.

Wer ist Michael Rosen und wie kam Michael Rosen zur Musik?

Michael Rosen:
Michael Rosen ist Kurator und Künstlerischer Leiter von Digital in Berlin. Geboren in Siebenbürgen/Transsilvanien, auf- gewachsen in Augsburg und seit 2004 in Berlin. Wie ich zur Musik kam, weiß ich nicht mehr so genau – vermutlich als Teenager Ende der 90er mit Stockhausen, Cage, Autechre, Broadcast und J Dilla.

Was ist Ihnen in Ihrer Arbeit wichtig, was ist Ihre künstlerische Mission?

Michael Rosen: Erlebnisse zu schaffen und spannende Formate zu entwickeln, ästhetische und szenenbezogene Kontraste zusammenzuführen, neue Musik zu präsentieren und mich nicht zu wiederholen. Sparten-, Szene- und Publikumsgrenzen füreinander durchlässig zu machen und das Versprechen steter Neuentdeckungen mit jedem Konzert zu erneuern. Ich denke oft aus der Perspektive des Publikums und sehe meine Konzertabende auch immer als Begegnungsstätten, bei denen ich meinen Gästen ausreichend Zeit und Raum gebe, um sich zu begegnen.

Woher bekommen Sie Ihre Inspiration für Ihre Arbeit und die Entwicklung von neuen Konzert- und Vermittlungsformaten?

Michael Rosen: Aus meiner täglichen Arbeit, die ich eher als mein Hobby sehe – ein Privileg, das mich nach wie vor begeistert und ausfüllt.

Sie sind Kurator, Konzertveranstalter und IT-Spezialist. Sie beraten, unterstützen, entwickeln und veranstalten. Woher kommt das „Tausendsassa-Gen“?

Michael Rosen: In der Grundschule hieß es damals: „Der Junge hat zu viel Energie und kann nicht still sitzen.“ Ich glaube, wenn ich in Augsburg geblieben wäre, wäre ich entweder Spitzensportler oder drogenabhängig geworden – Letzteres wurde mir sogar prophezeit. Ganz banal: Ich mache ausschließlich das, was mir Spaß macht, und das zehrt weniger an meinem Energiehaushalt als beispielsweise eine Steuererklärung.

... und was war zuerst? Die Liebe für die Musik oder die Technologiefaszination, und wie kam und wirkt beides zusammen?

Michael Rosen: Keines von beidem – es war die Liebe zum Film. Musik und Computer kamen fast zeitgleich danach. Es gab Zeiten, in denen ich täglich zwei Filme angeschaut und mich stundenlang in Videotheken herumgetrieben habe. Von 2012 bis 2017 habe ich auch mein eigenes Filmfestival kuratiert – in einem 100 Jahre alten Art-Déco-Kino mit Blick auf den Atlantischen Ozean. Das war wunderbar.

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Was verstehen Sie unter „anspruchsvoller Musikkultur“, wie Sie Ihre Arbeit beschreiben?

Michael Rosen: Das kommt eigentlich aus der Übersetzung des ersten „Digital in Berlin“-Slogans: „Serious sound and music since 2008“.

Ich finde „anspruchsvoll“ nach wie vor treffend, weil es einerseits genreoffen ist und sich keiner Schublade oder schwammigen Musikdefinition bedient. Andererseits beschreibt es, dass die Kunst und Musik, die wir präsentieren, nicht beliebig ist, sondern immer ein gewisses Niveau und eine innere Stringenz mit sich bringt.

Für welche Musik und welche Formate steht Michael Rosen, von dem es heißt, dass er ein besonders gutes Händchen für Konzerte und unbekannte Künstler:innen hat?

Michael Rosen: Für alle Musiken – genau darum geht es mir. Musik fernab von Genres und Definitionen zu präsentieren, möglichst unterschiedlich und kontrastreich. Die Formate sind variabel und ändern sich von Ort zu Ort. Das verbindende Element ist, dass ich versuche, ernste, oft sperrige Inhalte einem breiten Publikum zugänglich zu machen.

„Musik an ein Publikum bringen – und an Orte, die außerhalb der konventionellen Kartografien hauptstädtischer Clubs und Spielstätten liegen“, um meinen Freund, den Musikjournalisten Jens Balzer, zu zitieren.

Sie denken und arbeiten spartenübergreifend. Wie wichtig ist dies für Sie und wo sehen Sie Chancen, aber auch ungenutzte Möglichkeiten?

Michael Rosen: Spartenübergreifend zu arbeiten ist wichtig, um mich und mein Publikum nicht zu langweilen – aber auch, um eine neue Zuhörerschaft zu erreichen, die sich wiederum über ein Publikum freut, dem sie sonst nicht begegnen würde.

Das Format Kiezsalon, das seit Jahren sehr erfolgreich veranstaltet wird, findet seit der Pandemie an wechselnden Orten statt. Wie wichtig sind die Orte und deren Einfluss auf die Kreativität der Künstler:innen, deren Performance und eine unterstützende Wirkung auf das Publikum?

Michael Rosen: Die wechselnden Orte haben eine neue Ebene und Herausforderung mit sich gebracht. Jeder Ort ist anders und muss anders bespielt werden. Nicht jede Musik passt an jeden Ort. Wir wollen Orte nicht assimilieren, sondern für und mit dem Ort kuratieren. Einen Bärenzwinger mitten im Park bespielt man idealerweise anders als eine 4000 Quadratmeter große Industriehalle. Die unterstützende Wirkung auf das Publikum ist signifikant, denn ein neuer Kiez bedeutet oft auch ein neues Publikum.

Sie haben mehrere Jahre für die Gruppe der Design Hotels gearbeitet. Hat dies Ihren Blick auf Orte und die Ästhetik von Konzertveranstaltungen verändert und geschärft?

Michael Rosen: Darüber habe ich tatsächlich noch nie nachgedacht. Jedenfalls hat es jahrelang meine Miete bezahlt und mir ermöglicht, mein ausschweifendes Konzertleben zu führen. Vielleicht hat es mir gezeigt, dass sich Underground, Qualität und Anspruch nicht ausschließen. Das Hotel und Festival-Mitveranstalter auf Madeira hätte ich ohne „Design Hotels“ jedenfalls nicht entdeckt.

Wann und wie haben Sie Madeira für sich entdeckt, wo Sie seit 2008 jeweils Anfang Dezember das „MADEIRADiG“, ein intimes Festival für Noise, Avantgarde und Experimental-Musik, veranstalteten? Was kam dort für Sie und das Format so perfekt zusammen und warum ist trotz des Erfolges jetzt erst einmal Schluss?

Michael Rosen: Ich wollte immer ein Festival für Menschen machen, die keine Festivals mögen. Das Terrain, das ich vor über 16 Jahren auf Madeira vorgefunden habe, war da- für ideal. Beim Boxen sagt man, wenn die „Prime“ vorbei ist, sollte man wissen, wann man aufhört – und die Zeit ist jetzt definitiv gekommen. Man kann es vielleicht mit einer alten Band vergleichen, die lange und erfolgreich miteinander gespielt hat und sich irgendwann eingestehen muss, dass man nicht mehr so recht zusammenpasst.

Wie wichtig ist für Sie Erfolg und wie bemessen Sie diesen für sich?

Michael Rosen: Ein befreundeter Komponist sagte einmal in seiner Radioshow:

„Rosen gestaltet mit sicherer Hand beispiellose Musikerlebnisse. Der Kiezsalon ist die inspirierendste Musikreihe, die ich kennengelernt habe. Bis in die ständig wechselnde Auswahl der Weine ist jeder Abend eine fruchtbare Symbiose aller Elemente. Glücklicher kann man Musik nicht darbieten.“ Wenn wir es dann noch schaffen, Künstler:innen vor ausverkauftem Haus zu präsentieren, nehme ich das als Erfolg wahr – und lasse mich daran gerne messen.

... und wie gehen Sie mit Scheitern um?

Michael Rosen: Nicht so gut schätze ich, das liegt eventuell auch daran, dass ich mein größter Kritiker bin.

Welche Idee von Michael Rosen ist noch unrealisiert, wer oder was und wo ist noch nicht veranstaltet?

Michael Rosen: Unzählige. Ich wollte immer ein interdisziplinäres Festival namens „Infinite Players“ ausrichten, zu dem ich ausschließlich Pioniere und vergessene Wegbereiter der Musik und Klangkunst einlade. Ich würde gerne nächstes Jahr den 1926 entstandenen Animationsfilm „Die Abenteuer des Prinzen Achmed“ von Lotte Reiniger an dem Ort, an dem er vor 100 Jahren seine Premiere hatte, der Berliner Volksbühne, zeigen – mit neuer, live ein- gespielter Filmmusik. Eine Konzertreihe, die alle 158 Botschaften (Embassys) in Berlin bespielt. Im März 2023 zeigten wir Béla Tarrs Meisterwerk „Sátántangó“ in der remasterten 4K-Fassung – 7,5 Stunden ohne Pausen und mit neuer, live gespielter Filmmusik. Das würde ich gerne noch einmal im Barbican in London machen.

Das Gespräch führte Kai Geiger.