Donaueschinger Musiktage 2024
„alonetogether“
17. - 20.10.2024
Das Programm der Donaueschinger Musiktage 2024 steht unter dem Titel „alonetogether“. In 15 Konzerten, Performances und Installationen mit 25 Ur- und Erstaufführungen widmet sich das Festival dem Verhältnis zwischen Individuum und Gruppe in der zeitgenössischen Musik. „Musikalischen Aufführungen ist das Paradoxon eigen, sowohl solitär und intim wie auch gemeinschaftlich und öffentlich zu sein. Jedes Konzert schafft durch sein Format ein spezifisches Dispositiv, wie sich Musiker:innen und Publikum zu- und untereinander verhalten: musikalisch, räumlich, medial und sozial“, sagt Lydia Rilling, Künstlerische Leiterin der Donaueschinger Musiktage. „Zeitgenössische Musik reagiert häufig in weniger offensichtlicher Weise auf die Welt als etwa Theater oder Bildende Kunst. Zugleich ist sie der Gegenwart deshalb nicht entfremdet. Das Verhältnis zu den Realitäten jenseits der Konzerträume kann viele künstlerische Formen annehmen. Musik kann zum Beispiel subtiler politisch agieren, indem sie modelliert oder hinterfragt, wie Menschen, Objekte und Ökosysteme einzeln oder gemeinsam funktionieren.“
Drumset mal zehn, KI-Solist und neue Akteur:innen
Enno Poppe multipliziert ein Solo-Instrument zehnfach und macht aus einem Individuum eine Gruppe identischer Mitglieder. Die zehn Drumsets des Percussion Orchestra Cologne geben dem Publikum das Gefühl, in einem einzigen gigantischen Schlagzeug zu sitzen (18.10., 18 Uhr). Das SWR Symphonieorchester bringt gemeinsam mit IRCAM unter der Leitung von Susanne Blumenthal drei sehr unterschiedliche Konstellationen von Solist:innen und Orchester auf die Bühne: Pascale Critons Reflexion über Alterität schlägt sich in der changierenden Beziehung zwischen der Sopranistin Juliet Fraser und dem Orchester nieder. George Lewis konfrontiert den Saxophonisten Roscoe Mitchell und das Orchester mit einem KI-Solisten. Und Simon Steen-Andersen stellt dem Orchester mit Yarn/Wire eine in sich geschlossene Gruppe gegenüber – nach zehn Jahren der intensiven Arbeit mit Film und Musiktheater ganz ohne Video oder Multimedia (18.10., 20 Uhr). Bereits am Freitagnachmittag ist eine Performance zu erleben, die die Cellistin und Komponistin Séverine Ballon in Workshops gemeinsam mit in Donaueschingen lebenden Geflüchteten entwickelt hat, die damit zu aktiven Akteur:innen des Festivals werden (18.10., 16 Uhr).
Räumliche Konstellationen, Debüts und Kontrabass im Dunkeln
Unterschiedliche räumliche Konstellationen und Erfahrungen bieten mehrere Konzerte sowohl am Freitag als auch Samstag. Zu den „Mavericks“ experimenteller US-amerikanischer Musik gehört der erst kürzlich verstorbene New Yorker Komponist Phill Niblock. In einer posthumen Würdigung dieses eigenwilligen Künstlers ist seine Musik mit zwei Uraufführungen erstmals in Donaueschingen zu hören (18.10., 22:30 Uhr). Erstmals als Solist bei den Musiktagen gastiert Pierre-Laurent Aimard. Mark Andre positioniert ihn im Zentrum des Publikums und entfaltet gemeinsam mit dem SWR Experimentalstudio zerbrechlichste Dimensionen des Klangs in einer Musik des Entschwindens, die dem Andenken eines Kindes gewidmet ist. (19.10., 11 und 15:30 Uhr). Zum ersten Mal beim Festival spielt das Kollektiv lovemusic aus Straßburg, geschätzt für seine gekonnt inszenierten Konzerte mit klug durchdachten Programmen. Das Ensemble bringt drei jüngere kompositorische Stimmen aus England und den USA zu Gehör: David Bird, Hannah Kendall und Laura Bowler, die auch selbst als Performerin auftreten wird (19.10., 11 und 15:30 Uhr). Am Abend versammelt der Kontrabassist Florentin Ginot das Publikum im Schlosspark zu einem Konzert in der Dunkelheit mit Werken für Kontrabass und Elektronik von Carola Bauckholt und Lucia Kilger (19.10., 19 und 22 Uhr), das wiederum eine andere Facette der Erfahrung von alonetogether bietet. Der Komponist und Saxophonist Roscoe Mitchell, seit Jahrzehnten einer der innovativsten Musiker und stets offen für neue künstlerische Impulse, ist nach seinem Auftritt mit dem SWR Symphonieorchester auch in einer ganz neuen Triobesetzung gemeinsam mit dem italienischen Schlagzeuger Michele Rabbia und dem Berliner Musiker Ignaz Schick zu erleben (19.10., 20:30 Uhr). Das britische Duo Rubbish Music schließlich folgt mit Klang den Geschichten, Verwandlungen und Auswirkungen unserer weggeworfenen Objekte (19.10., 23 Uhr).
Drängende Probleme, ungezähmte Emotionen, Kindheitserfahrungen
Im Konzert des SWR Vokalensembles und des SWR Experimentalstudios unter der Leitung von Yuval Weinberg kommen ästhetisch sehr unterschiedliche Werke von Claudia Jane Scroccaro, Franck Bedrossian und Michael Finnissy zur Uraufführung, die alle auf ihre Weise künstlerisch unmittelbar auf (be)drängende Probleme und Erfahrungen unserer Gegenwart reagieren (20.10., 11 Uhr). Das Abschlusskonzert mit dem SWR Symphonieorchester, dirigiert von Vimbayi Kaziboni, verbindet ungezähmte Emotionen mit akustischen Kindheitserfahrungen: Francisco Alvarado lässt sich von analogen Kassetten anregen, deren Abspielen eigene Klänge erzeugt. Sara Glojnarić komponiert eine kollektive Feier von Queer Joy. Und bei Chaya Czernowin übermitteln die sechs Stimmen der Neuen Vocalsolisten wilde Empfindungen, die aus der Tiefe der Körper mit all ihren unkontrollierbaren Gefühlen, Erfahrungen und Erinnerungen entspringen (20.10., 17 Uhr).
Interview aus dem Jahr 2023
Wir sprachen mit Lydia Rilling über die Neuausrichtung und die Pläne für die Donaueschinger Musiktage.
Sie werden in diesem Jahr (19.–22.10.2023) erstmalig für das Programm der Musiktage verantwortlich sein. Die SWR Programmdirektorin sprach davon, dass es mit Ihnen einen „Generationen- und Blickwechsel“ geben werde. Wie sieht dieser aus? Was haben Sie sich für Donaueschingen vorgenommen? Was steht in Ihrem Fokus für die nächsten Jahre?
Zwei Prinzipien sind für meine Pläne für die nächsten Jahre bestimmend, nämlich zum einen, Verbindungen herzustellen und das Festival stärker zu vernetzen, und zum anderen, die Musiktage zu erweitern. Diese beiden Prinzipien erstrecken sich auf alle Dimensionen des Festivals – künstlerisch-ästhetisch, medial, geografisch und perspektivisch. Das Festival wird sich dabei in jedem Jahr einem bestimmten Thema widmen. Mir ist es grundsätzlich wichtig zu zeigen, dass zeitgenössische Musik tief in der aktuellen Gegenwart verankert ist. All die großen Themen, die uns jenseits der Musik umtreiben, werden auch in und mit ihr verhandelt, auch wenn sie sich natürlich keinesfalls darauf beschränken lässt.
Wie war und ist der Spielraum für Veränderungen auf den Schultern einer 100-jährigen Festivalgeschichte?
Grundsätzlich ist der Spielraum für Veränderungen groß. Es gibt einiges, was ich erhalten möchte, wie die zentrale Rolle des SWR Symphonieorchesters und der anderen SWR Klangkörper und natürlich das große und leidenschaftliche Publikum. Auch wenn ich vieles anders gestalten werde, wird sich im Rahmen der bestehenden Strukturen und des vorhandenen Budgets nicht alles von einem Jahr auf das andere ändern. Das ginge z.B. dieses Jahr auch gar nicht, da die Planung etwa der Hälfte der Konzerte noch von meinem Vorgänger stammt, nicht zuletzt aufgrund der vielen Covid-Verschiebungen. Vieles wird sich im Laufe der Zeit entwickeln und verändern.
Welche Rolle spielen Frauen in der Neuen Musik? Björn Gottstein hat bei seinem letzten Festival 2021/22 die „Frauenquote“ deutlich erhöht, was längst überfällig war. Hat dies zu einer Bewusstseinsveränderung beigetragen und ist Ihnen dies für mehr programmatische Vielfalt und Gleichberechtigung der Geschlechter hilfreich?
Glücklicherweise spielen Frauen inzwischen eine zentrale Rolle in der zeitgenössischen Musik – als Komponistinnen, als Musikerinnen, als Dirigentinnen, als Managerinnen, als Festivalleiterinnen etc. Ich habe seit Beginn meiner Tätigkeit als Kuratorin immer großen Wert darauf gelegt, sehr viele Komponistinnen unterschiedlicher Generationen im Programm zu präsentieren und zwar unabhängig von Quoten. 2023 wird das Programm der Donaueschinger Musiktage zu etwa 70% von Frauen stammen, das ist sicher beispiellos in der bisherigen Geschichte des Festivals.
Ist ein Klangkunst-Museum in Donaueschingen oder anderswo als Ort, der die Musiktage und die Neue Musik ganzjährig repräsentiert, hör- und erfahrbar macht, nicht schon lange überfällig?
Ein ganz der Klangkunst gewidmetes Museum wäre für Deutschland natürlich sehr wünschenswert. In Donaueschingen gibt es inzwischen aus dem Wunsch heraus, Klangkunstinstallationen ganzjährig erfahrbar zu machen und nicht nur während der Festivalzeit, die Initiative, Klanginstallation der Donaueschinger Musiktage zu verstetigen, also dauerhaft zu installieren. Das finde ich sehr wichtig, und ich werde es auf jeden Fall unterstützen und fortführen.
Wie viel „Nachhaltigkeit“ liegt in der Neuen Musik, in Auftragskompositionen und Uraufführungen, wenn diese nach den Donaueschinger Musiktagen, dem Eclat Festival oder der MaerzMusik in den Archiven verschwinden?
Dass nicht allen Kompositionen die Ewigkeit auf den Spielplänen gegönnt ist, liegt in der Natur der Sache und ist in der Geschichte der Künste nichts Neues. Schaut man sich heute die Konzertprogramme des 19. Jahrhunderts an, stellt man fest, dass viele der gespielten Werke und Komponisten heute ganz unbekannt sind. Was wir heute aus dem 17., 18. und 19. Jahrhundert kennen, ist nur eine sehr kleine Auswahl dessen, was damals aufgeführt wurde.
Im Hinblick auf die Donaueschinger Musiktage ist es absolut verblüffend, wie viele „Klassiker“ und einflussreiche Werke hier uraufgeführt wurden. Ich habe zur Frage, was von den Donaueschinger Musiktagen für das „Repertoire“ bleibt, neben allen Programmen auch einmal Statistiken von Verlagen zu Wiederaufführungen studiert und mit Agent:innen, Journalist:innen etc. gesprochen. Eine realistische Schätzung ist, dass etwas 5 bis 10% der Werke bleiben.
Aber wie oft ein Werk anschließend gespielt wird, ist nur ein Aspekt der Bedeutung und Wirkung eines Festivals. Entscheidend ist auch, welche Impulse von den Uraufführungen ausgehen und das ist oft ganz unabhängig von der weiteren Anzahl der Aufführungen. Und schließlich liegt die Bedeutung des Festivals gerade darin, weit mehr als ein Ort von Uraufführungen zu sein, nämlich ein Ort des Austauschs, des gemeinsamen Erlebens von Musik, an dem anschließend leidenschaftlich über das Gehörte diskutiert wird und die Eindrücke in die Welt hinausgetragen werden – also ein Ort der gemeinsamen Reflexion über Musik. Es wäre stark verkürzend, wenn man die „Nachhaltigkeit“ eines Festivals allein auf die späteren Aufführungen der uraufgeführten Werke und Projekte reduzieren würde.
Wie kann man das Programm der Donaueschinger Musiktage einem breiteren Publikum zugänglich machen?
Für viele vor Ort sind Klanginstallationen ideal „zum Einstieg“, weil sie sehr niederschwellig sind: Man kann jederzeit kommen und gehen, kann so lange bleiben, wie man möchte, sich meistens bewegen, die Position wechseln, und oft kann auch die visuelle Dimension der Installationen den Zugang erleichtern.
Auf der einen Seite ist das Wichtigste für den Zugang zum Hören, dass Hörende ihren eigenen Ohren vertrauen. Natürlich gilt auch für das Hören, dass man desto mehr hört, je mehr man weiß. Aber die Vorstellung, dass man als interessierte Person erst mal ganz viel wissen muss, steht dem Hören im Weg und zerstört ganz viel an Offenheit und Interesse. In Luxemburg habe ich mit den rainy days ein Festival geleitet, das sich vor allem an ein breites Publikum wendet. Dort habe ich immer wieder erlebt, wie befreiend es für Menschen sein konnte, wenn sie nicht mehr die Erwartung hatten, jeden Klang einordnen und „verstehen“ zu müssen, sondern sich dem Hören hingegeben haben.
Auf der anderen Seite planen wir in Donaueschingen ganz konkret verschiedene Initiativen, um das Programm einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, zum Beispiel durch Einbeziehung von Donaueschingern. Und ganz zentral ist natürlich die Kommunikation eines Festivals, die viele Barrieren einreißen kann.