Progressive Chamber Music
Eine musikalische Bewegung etabliert sich
Die Stadt New York war schon immer Schmelztiegel für Stile und Experimente in allen Bereichen und Nischen der Musik, insbesondere in der Klassik-Szene und im Jazz. Nirgendwo sonst auf der Welt wurden und werden die Mauern der Erwartungen und Definitionen, wie Kunst zu sein hat oder präsentiert werden sollte, so wohltuend eingerissen. Vom Minimalismus von Young, Reich und Glass in den 60er- und 70er-Jahren bis zum experimentellen Genie von Zorn und der Knitting Factory-Szene in den 80er- und 90er-Jahren gab es eine beispiellose Offenheit, Mauern und Annahmen darüber einzureißen, was sogenannte „Kunst“-Musik sein kann und wie sie präsentiert werden sollte.
Dort hatten 2016 Gregor Hübner, Fung Chern Hwei, Ron Lawrence und Jeremy Harman vom Sirius Quartet, das wie das Kronos oder Modern String Quartet ganz oben in der Liga der besonderen Streichquartette spielt, die Idee, Kammermusik des 21. Jahrhunderts in den Fokus ihrer Arbeit und Konzerttätigkeit zu stellen. Sie nannten dies Progressive Chamber Music. Was als interner Arbeitstitel gedacht war, hat sich über die Jahre zu einem stehenden Begriff eines neuen Musikverständnisses und Stils entwickelt. Progressive Chamber Music sprengt Grenzen zwischen Kammermusik, Jazz, Avantgarde, Folklore, Pop, Hip-Hop und anderen Genres zeitgenössischer Musik. Ein genialer Schachzug war die Gründung eines gleichnamigen Festivals, das erstmalig im Oktober 2016 in New York, wo Gregor Hübner lebt, und ab 2018 als Ableger auch in München, wo Gregor Hübner an der Musikhochschule eine Professur für Jazz-Komposition, Jazz-Improvisation für Streicher und Jazz-Musiktheorie innehat, im Milla Club stattfand. In München zusammen mit seinem Freund und Professorenkollegen Gerd Baumann, einem der Gründer und Macher des Millas. Seitdem haben sich viele Musiker:innen der Progressive Chamber Music geöffnet, und es sind zahlreiche unterschiedliche und mitreißende Kompositionen, Interpretationen und Formate entstanden, die auf den Bühnen New Yorks und Münchens als spannende und moderne Klangwelten ihr Publikum finden. Gerade im Bereich der Hochschule hat sich ein wahres Füllhorn an großartigen, talentierten und hungrigen Musiker:innen aufgetan, die sich für die kongeniale Verschmelzung der verschiedenen Stile und klanglichen Richtungen begeistern und ganz eigene Klangmarken setzen. So sind es junge Ensembles und Musiker:innen wie Fiona Grond, Tetra Brass, Fallwander, das von Gregor Hübner gegründete Munich Composer Collective oder das Paranormal String Quartet um Gustavo Strauß, mit dem wir über Progressive Chamber Music sprachen.
Angedacht war von Beginn an der Austausch von Musiker:innen aus New York und München, was sich bisher nur für das veranstaltende Sirius Quartet realisieren ließ. Aber in diesem Jahr soll es endlich funktionieren. Wenn, und daran hängt so vieles, entsprechende Fördermittel beschafft oder stiftende Mentoren für die Idee der Progressive Chamber Music begeistert werden können.
Definition Progressive Chamber Music
„Progressive Kammermusik“ ist Kammermusik des 21. Jahrhunderts, die weder durch ein Genre definiert noch durch die Unterscheidung zwischen Konzert- und Unterhaltungsmusik eingeschränkt ist, sondern von Musiker:innen gemacht wird, die versuchen, die Grenzen zwischen Interpret:innen, Komponist:innen und Improvisator:innen aufzubrechen. Musik, die die Mauern und Annahmen darüber sprengt, was sogenannte „Kunst“-Musik sein kann und wie sie präsentiert werden sollte.
Während diese Grenzen immer mehr verschwimmen und ineinander übergehen, gibt es einen stetigen Strom von Künstler:innen und Ensembles, die die Fackel weitertragen und die Grenzen verschieben. Beim jährlichen Progressive Chamber Music Festival, das vom Sirius Quartet kuratiert wird, treten solche Ensembles auf, jedes mit einer eigenen Identität und dem gemeinsamen Wunsch, Kammermusik auf seine eigene Weise zu definieren. Es handelt sich um Kammermusikensembles des 21. Jahrhunderts, die sich nicht auf ein Genre festlegen lassen, die nicht zwischen Konzert- und Unterhaltungsmusik unterscheiden und die die Grenzen zwischen Interpret:innen, Komponist:innen und Improvisator:innen verwischen. Das ist progressive Kammermusik.
-Sirius Quartet-