
Klassik meets DJ-Sound Philharmonie Berlin trifft Berghain
Auf einen Chopin-Walzer folgt Minimal Music von Philip Glass, auf Bach Steve Reich und auf Beethoven Nils Frahm. Ob als DJ des WDR Klassik Klubs oder bei seinem eigenen Klassik Klub Live Format – Jürgen Grözinger bewegt sich zwischen Klassik, zeitgenössischer Musik in ihren unterschiedlichen Ausprägungen bis hin zur elektronischen Musik der Music Clubs. Er ist in der Berliner Philharmonie genauso zu Hause wie im Berghain oder Watergate, im Hamburger Bahnhof genauso wie im kleinen Club des Aegis Cafés in Ulm, der Heimatstadt Grözingers.
Als Multipercussionist, Komponist, DJ, Klangtherapeut und Gestalter von Festival- und Radioprogrammen ist er vom Erleben von Klang und Rhythmus, von Farbe und Struktur von Musik fasziniert und möchte diese Leidenschaft mit seinem Publikum teilen und ihm vermitteln. Seine DJ-Sets – wie auch seine Konzertprogramme im Allgemeinen – versteht Jürgen Grözinger als Reisen für Geist und Seele, als Anregungen für Intellekt und Gefühl. Er möchte Räume kreieren, in denen Klassik, Pop, Jazz, World und Electronica unabhängig von Schubladen und auch fern von Mainstream-Erwartungen wahrgenommen werden.
Der gebürtige Ulmer Jürgen Grözinger, der heute in Berlin lebt, absolvierte ein klassisches Musikstudium mit Hauptfach Perkussion in München und in Stuttgart mit einem anschließenden Aufbaustudium Kulturmanagement in Hamburg. Nach vielfältigen Tätigkeiten im klassischen Umfeld gründete er 1996 das Ensemble European Music Project dessen künstlerischer Leiter er ist. Seit 1996 kuratiert er das Festival neue musik im stadt- haus ulm, das seit 2020 „KlangHaus“ heißt und biennal und das nächste Mal vom 16. bis 19.4.2026 stattfindet. Zeitgenössische Kammermusik, Elemente der Pop- und Club-Musik, experimentelle Klänge, europäische Traditionen, außereuropäische Einflüsse, ganz herausragende Musiker:innen fast hautnah zu erleben, oft in einer überraschend ungewöhnlichen Bespielung des Raumes – all dies kommt im KlangHaus live zusammen. Große Kom- ponisten wie Michael Nyman, David Lang, Klaus Huber, Samir Odeh-Tamimi, Bernd Franke oder Dieter Schnebel waren im KlangHaus persönlich zu Gast.
Wir sprachen mit Jürgen Grözinger
Sie sind ein gefragter Musiker, Ideengeber und Kurator verschiedener Formate. Spannend finde ich Ihre Tätigkeit als Klassik DJ, Organisator von Opera und Concert Lounges und als Partner im WDR Klassik Club. Wie kamen Sie auf das Format und was ist Ihre Mission?
Jürgen Grözinger: Wahrscheinlich hatte ich schon immer eine Art „inneres Bedürfnis“, meinen Freunden und Bekannten gute und, wie ich meinte, „relevante“ Musik näher- zubringen. Ich sage das nicht ohne eine gewisse selbstkritische Ironie im Rückblick. Ohne dass ich mich DJ nannte, stellte ich Tapes her oder legte ab und zu in Bars auf. Schon lange vor den ersten sogenannten „Klassik-Lounges“ verband ich klassische Live-Auftritte mit DJ- Parts. Die Kategorisierung von „E und U“ war mir dabei längst ein Gräuel. Ich verstand meine Veranstaltungen, die sich zuerst meist in ziemlich überschaubarem Rahmen abspielten, gleichsam als anspruchsvolles Konzert – und als Party. Ich lud Freunde und Bekannte aus unterschiedlichsten Szenen zu diesem „grenzenlosen Musik-Erleben“ ein. Mit meinem Umzug nach Berlin im Jahre 2000 eröffnete sich mir für diese Idee ein größeres Podium: Als Per Hauber, heute bei Sony und damals Mitbegründer des mittlerweile legendären „Yellow Lounge“-Projekts des Deutsche Grammophon- Labels, eine meiner Mix-CDs in die Hand bekam und ich eingeladen wurde, mein Können in einem der angesagtesten Berliner Clubs unter Beweis zu stellen, war mein offizieller Grundstein für die „Klassik-DJ- Karriere“ gelegt. Nach wie vor interessiert mich dabei die Idee des „Abenteuers der Sinne“, in dem Fall vor allem des Hörens. Ich wünsche mir unvoreingenommenes und unverkrampftes Hören oder noch weiter gefasst – Erleben von Musik. Der Respekt im Umgang mit den Werken, die ich auflege, ist für mich dabei elementar, auch wenn es einem orthodoxen Klassik-Hörer vielleicht zuwider läuft, wenn das Ende eines Stücks unmerklich in den Beginn des nächsten übergeht, wenn ich Stücke des frühen Barock mit Klangflächen Ligetis mixe oder elektronischer Clubmusik entnommene Klänge dynamisch einwebe.

Ist zeitgenössische Musik DJ- tauglich oder welche Vermittlungsformate taugen für die zeitgenössische Musik?
Jürgen Grözinger: Als „DJ-tauglich“ würde ich sie nur begrenzt bezeichnen. Wobei es natürlich ganz unterschiedliche „zeitgenössische Musik“ gibt. Sicher lässt sich pattern- orientierte Minimal-Music von Steve Reich, Terry Riley oder Philip Glass besser in ein Set integrieren als die komplexen Werke von Komponisten wie Wolfgang Rihm oder Brian Ferneyhough. Grundsätzlich verlangt klassische Musik im DJ-Kontext umfangreiche Repertoire-Kenntnis und ein hohes Maß an musikalischem Gespür.
Im Rahmen meiner diversen Klassik-Lounges und auch des Radio-Klassik-Klubs auf WDR 3 spiele ich selbstverständlich nicht nur zeitgenössische Musik. Jedoch gelang es mir oftmals gerade bei diesen für viele unbekannten Stücken, Neugier bei den Hörern zu wecken, die sich in Fragen nach Urhebern äußerten. Klassik-Lounges sind jedoch keine Selbstläufer: Sie bedürfen ausgeklügelter Konzeption, Vorbereitung und präziser Durchführung. Dann jedoch sehe ich sie als ideales Format in der Vermittlung klassischer und auch zeitgenössischer Musik. Ich lerne viel für meine Konzert-Konzeptionen durch die Wahrnehmung des Publikums in den diversen Klassik- Klubs – ebenso wie meine vorbereitenden Gedanken zu Festival- und Konzert-Programmationen auch im DJ-Set ihre Entsprechung finden.
Seit diesem Jahr sind Sie mit einem Live- Klassik Klub Format unterwegs, das kurz vor seinem Start durch die Pandemie ausgebremst wurde. Ein Format, dass Ihnen mehr Möglichkeiten und Diskurs mit dem Publikum gibt. Was passiert in diesen Klub-Konzerten, wie muss man sich das vorstellen?
Jürgen Grözinger: Im Unterschied zum Radio-Format „Klassik-Klub“ auf WDR 3, das nicht nur ich, sondern mittlerweile ein großer Hörerkreis ganz großartig findet, das ohne Moderatoren auskommt und rein auf klassische Musik fokussiert ist, sind meine Live-Klubs direkter, spontaner, persönlicher. Ich spreche über die Musik, erzähle Hintergrunde oder persönliche Verbindungen dazu. Der Kern bleibt klassisch – von frühem Barock bis Gegenwart –, aber ich öffne die Sets bewusst in Richtung Jazz, Soul oder Elektronik, wenn es passt. Die Dramaturgie basiert auf einem Konzept, das oft ein übergeordnetes – auch außermusikalisches – Thema hat. Das Fine-Tuning geschieht dann in Echtzeit, beeinflusst von Raum, Publikum und Energie. Außerdem gibt es in meinen Live-Klassik- Klubs jeweils einen Live-Act. Genauso wichtig wie die Musik ist das Setting: Möblierung, Licht, Atmosphäre – all das formt das Erlebnis.
Ist das DIE Zukunft der Klassik, der Opernhäuser, Orchester und Klassikfestivals, die ihre Abonnenten und ihr Kernpublikum altershalber nach und nach verlieren, und sie nun vermehrt mit schnelllebigen Medien- und Social Media Formaten aufnehmen müssen?
Jürgen Grözinger: Nicht die Zukunft, aber eine wichtige Erweiterung! Klassische Musik kann durch solche Formate neue Zugänge schaffen, ohne sich anzubiedern. Social Media hilft, neugierig zu machen – aber als Teaser, nicht als Ersatz für echten kulturellen Tiefgang.
Wie muss sich aus Ihrer Sicht der etablierte Kulturbetrieb verändern oder öffnen, um langfristig zu überleben?
Jürgen Grözinger: Der etablierte Kulturbetrieb braucht Menschen, die sich auch außer- halb der Hochkultur authentisch bewegen. Museale Inszenierungen bringen uns nicht weiter, aber „hippe“ Kosmetik auch nicht. Es geht um Glaubwürdigkeit, nicht um „Jeans“ oder scheinbar coole Fabrikhallen. Wir müssen neue Zugänge schaffen – aber mit echter Begeisterung, nicht als Pflichtübung. Ich bekomme oft Rückmeldungen von Menschen, die sagen: „Eigentlich höre ich keine Klassik – aber das hier hat mich gepackt.“ Genau darum geht’s: Brücken bauen, neue Perspektiven öffnen.
Das Gespräch führte Kai Geiger.