Wir sprachen mit Prof. Dorothee Oberlinger, der Intendantin der Musikfestspiele Potsdam Sanssouci.


Sie sind künstlerische Leiterin der Musikfestspiele Potsdam Sanssouci, eines Festivals für Originalklang, sind Professorin und stellvertretende Leiterin des Instituts für Neue Musik an der Universität Mozarteum Salzburg, sind vielfältig und in wechselnden Formationen als Blockflötistin und Dirigentin engagiert und haben u.a. im Jahr 2009 mit dem Schweizer Elektropop-Duo Dieter Meier und Boris Blank (Yello) das Stück „Taklamakan“ für deren Album Touch Yello aufgenommen. Ein breites Musikspektrum, das Sie als Künstlerin abdecken! Wie sind Sie verortet, welchen Reiz und Inspiration ziehen Sie aus der musikalischen Vielfalt in Ihrem Tun?

Ich war seit dem Studium immer schon in der Neuen wie der Alten Musik unterwegs, fand (und finde) es auch erhellend, mich intensiv mit der Aufführungspraxis Alter Musik auseinanderzusetzen, aber auch in den Kosmos der zeitgenössischen Komponist:innen einzutauchen und das Repertoire für mein Instrument stetig zu erweitern.
Die Arbeit mit Boris Blank von Yello, die Sie ansprechen, war enorm inspirierend. Blank arbeitet mit ganz eigenen Kreationen von elektronischen Klängen, mit starken Bildern, dazu hat er mich ganz ohne Noten improvisieren lassen und dann aus dem Füllhorn des Materials das Stück „Taklamakan“ komponiert.
Aber zurück zu Ihrer Frage nach meiner Verortung.
Natürlich spielt mein Instrument, die Flöte, nach wie vor eine große Rolle für mich, sie ist mein Sprachrohr, mein Ausdrucksmittel und manchmal sogar eine Art Mediationsinstrument, mit dem ich ganz „bei mir“ sein kann.
Nach meinem Studium kam die Frage, was ich jetzt beruflich mit meinem Flötenspiel mache. Man muss als Blockflötistin sein Berufsfeld ganz individuell entwickeln, einen festen Job an einem Orchester gibt es für dieses historische Instrument ja nicht. Im Laufe der Jahre entwickelte sich eine Melange aus meiner Arbeit als Solistin mit Ensembles und Orchestern, als Leiterin eines eigenen Ensembles, als Pädagogin in der Konzertfachausbildung, später als Dirigentin und Festivalleiterin.
Heute kann ich sagen, dass sich die Felder ideal gegenseitig beflügeln. Zum Beispiel profitiere ich vom stetigen Austausch mit der jüngeren Generation, der ich mein Wissen vermitteln darf. Als Dirigentin kann ich den Orchesterklang formen, als Ensembleleiterin neue Projekte kreieren, als Gast anderer Ensembles auf neue Perspektiven und Musiker:innen treffen – und die Erkenntnisse aus diesen Bereichen können wiederum in die Dramaturgie des Festivals einfließen.
Die Tendenz geht in der Musikausbildung heute immer mehr in Richtung Spezialisierung. Dabei finde ich eine breitere Aufstellung gar nicht schädlich, auch nicht für die Verfeinerung des Ausdrucks und der Instrumentaltechnik. Ganz im Gegenteil. Eine Erweiterung des Horizonts über das Instrument hinaus kann beflügeln.
Zur Barockzeit war das Multitasking auch oft die Regel. Händel war z.B. nicht nur Komponist, er war hervorragender Cembalist und Organist, dazu Intendant eines Opernhauses und riss noch die Karten am Eingang selbst ab.

Marie Perbost ©Romane Begon / Claire Lefilliâtre ©Sébastien Brohier

Wir stoßen bei unseren Recherchen immer häufiger auf Künstler:innen, die genreübergreifend denken, arbeiten und sich zu Hause fühlen. Wie nehmen Sie dies wahr, und ist dieses sich künstlerisch über Grenzen Hinwegsetzen primär die Suche nach der künstlerischen Herausforderung oder auch die Tür zum Überleben in der Musikbranche?

Das sogenannte „Cross-over“ und stilistische „über den Tellerrand schauen“ gab es irgendwo ja schon immer in der Geschichte der Musik. Denken wir an Telemann, der sich von der polnischen Volksmusik in den Pubs von Krakau inspirieren ließ, an Purcell, der irische und schottische Tänze in seiner Musik verarbeitete. An Händel, der die italienische Oper als Deutscher in London groß machte. An italienische Komponisten der Endzeit der Renaissance, die Madrigale ihrer Großväter diminuierten, sie verzierten, aus dem „alten“ Stoff eine neue Stilistik entstehen ließen.
An Bach, der sich Drucke italienischer Komponisten nach Hause bestellte und Cembalosoli daraus arrangierte, mit ganz eigenen Verzierungen.
Ich will damit sagen: Das Philosophieren über das historische oder das stilistisch fremde Material, die intensive, auch musikologische Auseinandersetzung mit historisch informierter Aufführungspraxis und letztendlich der Vergangenheit, das Arrangieren, das Ausloten von Stilistik ist keine moderne Erfindung des heutigen „Musikbetriebs“.
In Potsdam steht der Originalklang seit Gründung des Festivals im Zentrum, der sprechende und sinnliche Klang originaler Instrumente, mit denen historische Werke adäquat im wahrsten Sinne des Wortes lebendig werden können – und zum „Originalklang“ zählt auch der Klang Neuer Musik frisch aus der Feder, Improvisation, Jazz und Volksmusik, Weltmusik.

Im Profil Ihres Festivals steht die Öffnung der Alten Musik in den Jazz, die Weltmusik und die Neue Musik wie das kreative Zusammenspiel der verschiedenen Kunstformen in interdisziplinären Konzepten. Wie sieht dies konkret aus und wie spiegelt sich dieser Leitgedanke im Programm 2023?

Beim Fahrradkonzert am 18.06. kann man radelnd interdisziplinäre Konzepte erfahren, z.B. den Potsdamer Schauspieler und Tangotänzer Michael Ihnow mit historischer Traversflöte und Akkordeon, Breakdance auf dem BMX-Rad und eine alte griechische Doppelflöte, ein Jazztrio oder mit dem Ensemble BACH BY BIKE mitfahren. Beim Waldbaden kann man dem Spirit der Wandervogel-Bewegung und dem Chorsingen in der Natur wieder ganz neu und interaktiv begegnen, mit Chorgesang der Romantik, aber auch Wald-Guides, die Neues über das Ökosystem Wald berichten.
In meinem neuen Programm mit Nils Mönkemeyer spannen wir z.B. den Bogen von Hildegard von Bingen über Morton Feldmann und John Cage zu improvisierter schottischer Volksmusik bis hin zu uns gewidmeten Kompositionen der Griechin Konstantia Gourzi und einer von den Festspielen beauftragten Uraufführung des Taiwanesen Wen Cheng Wei.

Dadurch entwickeln sich neue Ideen, Projekte und Freundschaften. Das passt perfekt zu Ihrem diesjährigen Festivalmotto „In Freundschaft“! Was hat es mit dem Thema auf sich?

Das Motto „In Freundschaft“, mit dem wir uns nach der Isolation während die Pandemie beschäftigen wollten, um die Bedeutung des Miteinanders neu zu bewerten, hat durch den Angriffskrieg Russlands einen brisanten neuen Akzent bekommen. Schon in der Antike werteten die Philosophen die Art, wie wir mit unseren engsten Freunden Umgang pflegen, als eine Keimzelle der Gesellschaft und grundlegend für deren Qualität. Dem Philosophen Montaigne gab sie einen Grund zu leben, und in der Romantik war sie der Königsweg, um im Briefwechsel gemeinsam die Welt zu begreifen. Auch wenn die Beteiligten selbst oftmals gar nicht sagen können, was genau sie zueinander gebracht hat, gehören zu einer Freundschaft immer Sympathie und Vertrauen. Bei den Musikfestspielen geht es dieses Jahr um die frei gewählten zwischenmenschlichen Beziehungen (etymologisch schwingt das Wort „frei“ als Wurzel im Wort „Freundschaft“ mit), die Wahlverwandtschaft (auch der Beziehung unter wirklich Verwandten), das fruchtbare Duo, die Hommage an bewunderte Vorbilder und das Tombeau als Ehrenmal und Bekenntnis zu bereits verstorbenen Genies. Daneben werfen sie auch einen Blick auf spannungsvolle Facetten, die Konkurrenz, die in Eifersucht umschlagende Liebe. Das Programm zeigt quer durch 800 Jahre Musikgeschichte Erzählungen davon, was Menschen aufeinander zugehen und aufrichtig befreundet sein lässt.

Bernardo Pasquini, Jan Frans Douven ©Stiftung Preussische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg, Fotograf: Roland Handrick / Arianna Vendittelli @Manuela Giusto

Wie wichtig ist die programmatische Öffnung und Diversifizierung für die Musikfestspiele Potsdam Sanssouci?

Die „Festspielfamilie“ unserer Künstler:innen ist sehr bunt und divers, man kann sagen, sie spiegelt die seit Jahren gewachsene äußerst kreative und vielfältige Freelancing-Szene des Originalklangs wider, und es kommen auch durch unser Konzept der „Lunchkonzerte“ immer wieder neue junge Künstler:innen dazu, die ganz neue Ansätze einbringen, z.B. der Tänzer und Barockgeiger Yves Ytier, der für die Festspiele ein neues Projekt mit den „RosenTanzsonaten“ kreierte.
Inhaltlich gesehen: Vieles ist unerhört und meist nicht Mainstream-Repertoirekanon, sondern es geht um Wiederentdeckungen, Improvisation, Musik vom Mittelalter bis heute von Komponist:innen, mit internationalen Solist:innen und Ensembleleiter:innen.